Das 4. Pferd der Quadriga

Vom 1. Juni 2017 bis 15. April 2018 gab es im Verbindungsbüro des Deutschen Bundestages bei der Europäischen Union in Brüssel die Ausstellung „Ansichten“ mit Fotografien und Videoarbeiten zu Johann Gottfried Schadow von Christoph Brech.

Johann Gottfried Schadow (1764-1850) war ein preußischer Grafiker und der bedeutendste Bildhauer des deutschen Klassizmus.  Sein bekanntestes Werk ist die Quadriga auf dem Brandenburger Tor (1793).

In seiner Ausstellung erweiterte der Fotograf und Video-Künstler Christoph Brech den Blick auf die Skulpturen Schadows, wobei er sie seiner künstlerischen Sehweise anverwandelte.

Anlässlich dieser Ausstellung wurde ich u.a. vom Goethe Institut Brüssel eingeladen, einen Text über einer der Kunstwerke zu schreiben und ihn in Anwesenheit des Künstlers und Dr. Andreas Kaernbach des Kurators der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages bei einer Veranstaltung im Verbindungsbüro vorzulesen.

Ich habe das Foto „Das 4. Pferd der Quadriga“ ausgewählt.  Im Foto zieht die „Quadriga“ unter einem Sahara-Staub gefärbten Himmel in die Allee „Unter den Linden“ ein.

Das Foto wird mit freundlicher Genehmigung des Künstlers benutzt.

 
 
Das 4. Pferd der Quadriga

Seit 1793 stehe ich zusammen mit meinen drei Freunden und der Dame, deren Namen ich immer noch nicht kenne, hier.  Im Laufe der Zeit habe ich mit meinen blinden Kupferaugen viel gesehen, mit meinen tauben Kupferohren viel gehört, und mit meiner gefühllosen Kupferhaut viel gespürt.

Gesehen habe ich, wie die Stadt um mich gewachsen ist – weiter, immer weiter, bis dorthin, wo die Sonne aufgeht, und bis ich die Ränder der Stadt nicht mehr sehen kann. Gesehen habe ich, wie die Stadt Mal in Schutt und Asche lag und wie sie wiedererstanden ist.  Hinter mir gab es Mal eine Mauer.  Eines Tages hörte ich eine Männerstimme, die sagte „Reiß diese Mauer ab!“ und erstaunlicherweise war sie kurz danach weg.

Leute habe ich gesehen – Bürger der Stadt, die Unter den Linden flanierten; Soldaten, die unter mir marschierten; andere die gegen einander kämpften.  Und Unmengen, die eines Tages durch und über die Mauer strömten.  Heutzutage stehen unten vor mir ständig Leute aus der ganzen Welt.  Oft schauen sie zu mir, was – das gebe ich zu – mich stolz macht.

Farben habe ich gesehen, bewegende Farben – rot, weiß, schwarz und schwarz, rot, gold.  Und jetzt auch immer mehr blau und gelb.

Gesehen habe ich, wie während dieser ganzen Zeit jedes Jahr die Blätter der Linden sprießen, wachsen und fallen.

Gehört habe ich, wie die Stadt immer lauter geworden ist.  Nachdem ich hier ungefähr ein Jahrhundert gestanden hatte, begann das Problem.  Allmählich gab es immer weniger meiner Art da unten und stattdessen immer mehr laute, störende Metallkisten, die in alle Richtungen fuhren.  Heute geht es glücklicherweise etwas besser.

Gehört habe ich das Brummen der Leute, Mal sogar das Jubeln.  Gehört habe ich Donner, insbesondere als es der Stadt nicht gut ging und dann schon wieder, als das große Gebäude am Ende der Straße verschwand.  Komischerweise bemerke ich, dass es das jetzt wieder gibt.

Gefühlt habe ich Regentropfen, die Wärme der Sommersonne und die Kälte des Winterwindes, der – etwas nervend – mir immer direkt ins Gesicht zu blasen scheint.

Seit 1793 stehe ich hier.  Nur einmal war ich weg, als ich einen kurzen, unerklärlichen Aufenthalt in Paris verbrachte.  Mal war ich auch krank, als der Donner sehr laut war.  Ich kann mich nicht erinnern, was passiert ist:  In meinem Gedächtnis ist ein schwarzes Loch; ich weiß nur, eines Tages standen ich, meine drei Freunde und die namenlose Dame wieder hier.  Jeden Tag genieße ich die Aussicht, da sie jeden Tag etwas Neues bringt.

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